Europäische Verantwortung wahrnehmen – Keine Abschiebungen nach Afghanistan

Henriette Quade

»Ob die Europäische Union eine Zukunft hat, ob sie überhaupt noch eine politische Funktion und ob sie eine moralische Legitimationsgrundlage auch in Zukunft haben wird, wird sich daran messen lassen müssen, ob wir es schaffen, der zweifellos schwierigen Aufgabe der Aufnahme Asylsuchender und der Bekämpfung von Fluchtursachen gerecht zu werden.« – Rede im Magdeburger Landtag.

Ihr Einverständnis vorausgesetzt möchte ich meine Rede mit einem etwas längeren Zitat beginnen:

»Vor Reisen nach Afghanistan wird dringend gewarnt.

Wer dennoch reist, muss sich der Gefährdung durch terroristisch oder kriminell motivierte Gewaltakte bewusst sein. Auch bei von professionellen Reiseveranstaltern organisierte Einzel- oder Gruppenreisen besteht unverminderte Gefahr, Opfer einer Gewalttat zu werden.

[…] Der Aufenthalt in weiten Teilen des Landes bleibt gefährlich. Jeder längerfristige Aufenthalt ist mit zusätzlichen Risiken behaftet. […] Zudem sollte der Aufenthalt auf der Basis eines tragfähigen professionellen Sicherheitskonzepts durchgeführt werden. […] 

In ganz Afghanistan besteht ein hohes Risiko, Opfer einer Entführung oder eines Gewaltverbrechens zu werden. Landesweit kann es zu Attentaten, Überfällen, Entführungen und andere Gewaltverbrechen kommen.

Im Januar 2016 gab es in unmittelbarer Nähe des Flughafens Kabul eine heftige Detonation, bei der über 50 Zivilisten verletzt wurden. Im April 2016 wurden bei einem Anschlag gegen ein Regierungsgebäude in Kabul 80 Menschen getötet und über 340 teilweise schwer verletzt. 

Am 10. November 2016 hat ein Anschlag auf das deutsche Generalkonsulat in Masar-e Scharif stattgefunden. Das Generalkonsulat ist daher vorübergehend nicht erreichbar. 

Nach dem Ende der internationalen militärischen Unterstützungsmission ISAF haben die afghanischen Sicherheitskräfte landesweit die Sicherheitsverantwortung übernommen, sehen sich jedoch einer starken Insurgenz gegenüber und haben die Lage nicht überall unter Kontrolle. 

Von Überlandfahrten wird dringend abgeraten. Wo solche zwingend stattfinden müssen, sollten sie auch in vergleichsweise ruhigeren Landesteilen nur im Konvoi, nach Möglichkeit bewacht und mit professioneller Begleitung durchgeführt werden. Die Sicherheitslage auf der Strecke muss zeitnah zur Fahrt sorgfältig abgeklärt werden. Es wird davor gewarnt, an ungesicherten Orten zu übernachten. […] 

Rechte von Homosexuellen und Transsexuellen sind in Afghanistan nicht gewährleistet. Gleichgeschlechtliche und transsexuelle Handlungen sind durch Bestimmungen des afghanischen Rechts und Auslegungen der Scharia unter Strafe, bis hin zur Todesstrafe, gestellt. […] Heterosexuelle Handlungen außerhalb der Ehe sind ebenfalls strafbar. 

Eine ausreichende medizinische Versorgung, gerade bei Notfällen oder Unfällen, kann in weiten Landesteilen, insbesondere auch außerhalb der Hauptstadt Kabul, nicht gewährleistet werden. 

Häusliche und gewerbliche Abwässer werden im Allgemeinen unbehandelt über offene Kanäle in Oberflächengewässer entsorgt. Diese sind daher meist stark mit fäkalen Keimen und chemischen Schadstoffen kontaminiert, auch wenn sie in der landwirtschaftlichen Produktion verwendet werden. Durchfallerkrankungen sind überall im Land ganzjährig häufig. Leitungswasser, auch in den Städten, hat keinesfalls Trinkwasserqualität.

Afghanistan ist seit vielen Jahren Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen und gilt als eines der Länder mit hoher Gefährdung durch Landminen. Anschläge, z.B. durch ›improvised explosive devices‹ (IEDs) können darüber hinaus jederzeit Fußgänger, Fahrrad- und Kraftfahrer landesweit bedrohen.

Bei schweren Erkrankungen muss eine medizinische Evakuierung, zum Beispiel nach Indien oder nach Dubai, erwogen werden. Ein ausreichender und gültiger Krankenversicherungsschutz einschließlich einer Reiserückholversicherung ist zwingend notwendig, kann aber die unzureichende medizinische Infrastruktur vor Ort nicht ersetzen.« 

Meine Damen und Herren,

ich ende an dieser Stelle mit dem Zitat, es stammt nicht vom Flüchtlingsrat oder von Pro Asyl, es stammt nicht aus einem individuellen Reisebericht oder von einer Hilfsorganisation, dies sind die aktuellen Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes. Die Bundesregierung selbst schätzte ein, dass nur neun der 123 Distrikte kontrollierbar seien. 31 der 34 Provinzen sind umkämpft, die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Binnenvertriebenen 2016 auf 1,5 Millionen erhöhen wird.

Das belegt eindeutig: Afghanistan ist vieles, aber Afghanistan ist nicht sicher. Was für Deutsche detailliert nachgewiesen wird, leugnet die Bundesregierung aber für diejenigen, die vor Krieg, Terror und Verfolgung und all dem was ich eben beschrieben habe geflohen sind, die sich eine andere Zukunft aufbauen wollten, die sich zum Teil seit vielen Jahren genau das - eine andere Zukunft- geschaffen haben. Das ist nichts anderes als Risiken für Menschenleben mit zweierlei Maß zu messen. Wovor Deutsche eindringlichst gewarnt werden, was für sie als eindeutig unsicher gilt soll für Afghanen sicher genug sein. Das ist unverantwortlich und ein menschenrechtlicher Skandal.

Und ich ahne was der Innenminister mir gleich entgegenhalten wird – aus Sachsen-Anhalt finden bisher noch keine Abschiebungen statt. Ja, bisher, es ist aber keineswegs so, dass wir hier eine theoretische Debatte führen. Am 2. Oktober haben Deutschland und die EU mit Afghanistan eine Rücknahmevereinbaurng getroffen. Mit ihrer Hilfe sollen Abschiebungen leichter erfolgen können, sollen fehlende Pässe (die ihnen ja bei der Einreise so wichtig sind) pauschal durch Ersatzdokumente ersetzt werden und so einfach Abschiebhindernisse beseitigt werden. In diesen Tagen starten die ersten Sammelabschiebungen von deutschen Flughäfen nach Afghanistan. Auch in Sachsen-Anhalt bekommen zunehmend Afghanen ablehnende Bescheide, Aufforderungen zur freiwilligen Ausreise und in Zukunft dann wohl auch Abschiebebescheide. Das ist völlig unabhängig von Integration, die bereits vollzogen wurde, das ist unabhängig von familiären und freundschaftlichen Bindungen hier, es ist unabhängig von dem, was die Menschen in Afghanistan erwartet. Es ist, wie der Geschäftsführer von Pro Asyl Günter Burkhardt richtig feststellte: »... eine Verbeugung vor Ausländer-raus-Stimmung in Deutschland. Man kippt die Menschen in Kabul ab. Dann interessiert nicht mehr was mit Ihnen in einigen Wochen geschieht.«

Und gleichzeitig haben diejenigen, die die Kraft, die Möglichkeiten und die Nerven haben zu klagen, gute Chancen zu gewinnen. Weil es mittlerweile Ausbildungsverhältnisse gibt, weil es Arbeitsverträge gibt, weil es viele gute Gründe gibt, die gegen Abschiebungen dieser Menschen sprechen. Dass diese Klagen keine schlechten Erfolgsaussichten haben hängt auch mit den wenigen guten Neuregelungen des Integrationsgesetzes zusammen und genau hier wird doch die Paradoxie dieser Praxis deutlich: Einerseits werden integrationsspezifische Bleibegründe definiert, andererseits werden diese nur wenn man sie einklagt anerkannt. Das sogenannte Integrationsgesetz hat ohnehin  wenig Gutes- wenn aber auch noch das Einzige was wirklich relevant Verbesserung im Sinne von Integration birgt erst dann greifen kann, wenn die Leute es einklagen, macht es nochmal deutlich, was eigentlich das staatliche Interesse hier ist. Nicht Integration zu wertschätzen, sondern Gründe zu finden, die Leute los zu werden.

Völlig klar ist: die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich in keiner Weise verbessert- wenn Sachsen-Anhalt bisher nicht dorthin abgeschoben hat, was ich ausdrücklich richtig finde, gibt es keine nachvollziehbare Begründung, es jetzt zu tun. Wenn es so ist, das am Ende die Chance hier zu bleiben für Afghaninnen und Afghanen mit viel Unsicherheit, mit viel Angst, mit viel Bürokratie verbunden, aber eben doch nicht so klein ist, dann ist es absurd, verantwortungslos und integrationsfeindlich den Leuten den Weg der Klage aufzuzwingen, statt Ihnen Bleibeperspektiven zu geben. Genau das wollen wir mit unserem Antrag erreichen. Zum Einen darf es aus ganz grundsätzlichen humanitären Gründen auch in Zukunft keine Abschiebungen nach Afghanistan aus Sachsen-Anhalt geben, zum anderen muss das Land beim Bundesinnenminister darauf hinwirken, nicht nur eine aufenthaltsrechtlichen Lösung zu schaffen, sondern auch den Zugang zu Integrationskursen ab Beginn des Asylverfahrens zu ermöglichen.

Und wir beleuchten mit unserem Antrag noch einen weiteren Aspekt europäischer Verantwortung: Seit Jahren tragen Länder wie Griechenland und Italien die Hauptverantwortung für die Menschen, die in ihrer Verzweiflung den gefährlichen Weg über das Mittelmeer wagen. Seit Monaten leben Geflüchtete und Asylsuchende unter katastrophalen Bedingungen.

Die Inseln, auf denen Flüchtlinge wegen des EU-Türkei-Deals verharren, werden zu Notstandsgebieten, die für die Insel Lesbos zuständige Regionalpräsidentin hat beantragt, die Insel wegen Überschwemmungen, wegen anhaltenden Starkregen, wegen Hagelstürmen und des Kälteeinbruches zum Katastrophengebiet zu erklären. Ähnliches gilt für andere Inseln, Zakynthos zum Beispiel ist ebenfalls Notstandsgebiet- genau dort, genau auf den ägäischen und ionischen Inseln sitzen etwa 17000 Menschen fest, sind zum Ausharren gezwungen weil die EU den unverantwortlichen Deal mit der Türkei eingegangen ist. Sie leben in Zelten mit unzureichender Ausstattung, mit immer wieder unsicherer Versorgung, mit ungenügender Ausstattung gegen die Kälte und ohne Ausweg.

Es ist für meine Fraktion unerträglich, hier im Land rumzulaufen und froh zu sein, dass die Geflüchteten nicht mehr hier ankommen weil es die Lage hier besser sortierter macht, wenn man weiß, was der Preis ist. Der Preis sind Menschenleben. Der Preis ist, das europäische Verantwortung mittlerweile eine hohle Phrase ist, der Preis ist, dass Menschen unter unzumutbaren Bedingungen leben, krank werden, nicht ausreichend behandelt werden können und eben auch sterben.

171 000 Menschen sind im Lauf des Jahres in Italien über das Mittelmeer angekommen, mehr denn je Menschen sind im Mittelmeer gestorben, sicher wissen wir von mindestens 4700 Menschen. Ich teile die Auffassung des EU-Migrationskommissars, dass es dringend notwendig ist, die Umsiedelung von Geflüchteten aus Italien und Griechenland innerhalb der europäischen Union zu beschleunigen, es braucht mehr europäische Experten zur Asylverfahrensbearbeitung vor Ort und endlich legale Fluchtwege nach Europa, die die Menschen nicht länger zwingen, den Tod zu wagen.

Was kümmert uns das Leid woanders-Afghanen abschieben, sich freuen dass die Geflüchteten hier nicht mehr ankommen  und dann schön Weihnachten feiern- das ist menschenverachtend und Sachsen-Anhalt muss alles tun, was in seiner Macht steht, um Leid zu lindern Leben zu retten und europäische Verantwortung wahr zu nehmen. Daher beantragen wir eben auch, dass sich die Landesregierung dafür einsetzt, dass Deutschland und eben auch Sachsen-Anhalt Italien und Griechenland bei der Aufnahme entlasten und die mittlerweile leerstehenden und kostenverursachenden Erstaufnahmeplätze sinnvoll zu nutzen.

Ob die Europäische Union eine Zukunft hat, ob sie überhaupt noch eine politische Funktion und ob sie eine moralische Legitimationsgrundlage auch in Zukunft haben wird, wird sich daran messen lassen müssen, ob wir es schaffen, der zweifellos schwierigen Aufgabe der Aufnahme Asylsuchender und der Bekämpfung von Fluchtursachen gerecht zu werden.